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Vorwort.

Vor einigen Monaten fiel mir in der „Kölnischen Zeitung“ die Todesanzeige des Professors Justus Müller auf. Justus Müller? Profeffor Justus Müller? Der Name klang mir so bekannt, aber ich wußte ihn nicht gleich unterzubringen; der beigefügte Titel machte mich irre. Endlich fiel mir ein, daß in meinen Gymnasialjahren ein Kandidat dieses Namens in Wilhelmsdorf außerordentliches Aufsehen erregt hatte. Ich erinnerte mich auch, daß der Professor, bei welchem ich damals in Penfion war, er hieß Gottlieb Friedmann mit diesem Kandidaten öfters verkehrt hatte und nachmals der Schwiegervater desselben geworden war.

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Müller war als junger, vielversprechender Kandidat des Predigtamts nach Wilhelmsdorf gekommen und hatte durch seine Rednergabe, seinen Feuereifer, seine aufrichtige Frömmigkeit großen Einfluß ge

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wonnen.

Die alte Kirche in Wilhelmsdorf erwies sich bei seinen Predigten zum erstenmal zu klein für die Menge der Zuhörer. Der stattliche junge Mann war orthodor, war Pietist, aber er war es mit der vollen Hingabe eines aufrichtigen Herzens. Deshalb beschränkte er sich auch nicht darauf, von der Kanzel das Christentum zu verkündigen, er versuchte dasselbe auch ins Leben zu übertragen. Dabei aber erging es ihm schlecht, und als er eben glaubte, in einer Erziehungsanstalt eine wahrhaft apostolische Wirksamkeit gewonnen zu haben, erlitt er vollständig Schiffbruch. Daß ihm die Welt mit Haß und Verachtung begegnete, darauf war er gefaßt, das erfüllte ihn mit Stolz. Aber daß auch die Gläubigen nichts mehr von ihm wissen wollten, als er das Evangelium aus der Theorie in die Praxis, aus der Kirche ins Leben übertrug, das machte ihn an Gott und der Welt irre; ja, es hätte ihn zur Verzweiflung ge= trieben, wäre ihm nicht mein guter alter Professor Friedmann zu Hülfe gekommen. Ich hörte den Alten nachmals oft sagen, die Erlebnisse Müllers seien ganz dazu angethan, die Unvereinbarkeit des so= genannten positiven Christentums mit der gegenwärtigen Lebensordnung darzulegen; es ließe sich ein Büchlein daraus machen, das ein rechtes Vademecum nicht bloß für junge Theologen, sondern für denkende Menschen überhaupt werden könnte.

Das fiel mir ein, als ich jüngst die Todesanzeige las. Vielleicht, dachte ich, hat der Alte wirklich den Anfang zu einer solchen Schrift gemacht, vielleicht hat Müller Materialien dazu hinterlassen. Meine Anfrage bei der Wittwe, die mir von der Pensionszeit her in bester Erinnerung lebte, wurde aufs freundlichste erwidert. Marie Müller, geborene Friedmann, sandte mir alles, was sie aus jener denkwürdigen Periode in Händen hatte: Gespräche ihres Gatten mit seiner Mutter, Predigtentwürfe und Aphorismen desselben, Gedichte ihres Vaters und ihres Mannes, endlich einige von ihr selbst ge= schriebene Aufsäße über die Vorgänge in jener Erziehungsanstalt, dem St. Annenstift, zu welchen fie den Stoff theils von einem der damaligen Stiftsfräulein, theils von ihrem Gemahl erhalten. Es war eine schöne Aufgabe, aus diesen Vorarbeiten die Geschichte des Kandidaten Müller zusammenzustellen.

Mir wenigstens hat die Abfafsung derselben Freude gemacht, nicht nur, weil ich die betheiligten Personen fast alle gekannt habe, sondern weit mehr, weil mir die hier behandelten Fragen die allerwichtigsten zu sein schienen. Du denkst vielleicht anders, lieber Leser! Du glaubst Dich seit Deiner Konfirmation der Religion entwachsen und hast sie von Anfang an langweilig gefunden. Immerhin wirst Du zugeben, daß ein großer Theil des Volkes,

ja der eigentliche Kern desselben sie nicht entbehren kann noch will, und daß es für diesen keineswegs gleichgültig ist, in welcher Gestalt fie an ihn herantritt. Gleichgültig kann es unmöglich sein, ob das Volk zu einer vernünftigen, harmonischen, mit dem Wissen der Zeit übereinstimmenden Gottesverehrung und Lebensanschauung erzogen wird, oder zu einer veralteten, und deshalb unwahren und heuchlerischen, ob seine Geistlichen mehr Nathan dem Weisen oder dem Patriarchen in Lessings Testament gleichen. Und wenn es Dir persönlich gleichgültig ist, weil Dein Lebensideal ganz außerhalb der religiösen Sphäre liegt, so wirst Du doch vielleicht für die Bedürfnisse Deiner Mitmenschen einiges Intereffe haben.

Du brauchst Dir also den Kandidaten Müller nicht gleich selbst zu kaufen; aber es empfiehlt sich, die Anschaffung für die „Harmonie" zu beantragen oder die Gesellschaft, welcher Du sonst angehörst, und ihn jedenfalls in Deinen Lesezirkel aufnehmen zu laffen.

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