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zeigte, war eine religionsgeschichtliche Förderung, ja Notwendig keit, und zwar sowohl eine ideengeschichtliche: das Göttliche das in die Welt eingeht, muß leiden! als auch wenn beim Islam der Ausdruck erlaubt ist eine kirchengeschichtliche: es erhöhte den Wert des Imāmats, daß s Opfer erforderte. Man denke sich nur die Martyrien aus der Schi'a fort! Wohl ist der Glaube an das gottgegebene Imamat älter, wie schon Ibn alSauda' oder zum mindesten Abu'l-Aswad al-Du'ali zeigen; aber ohne den Dolch des Ibn Muldscham und ohne Kerbela wäre er ein unsubstanziiertes Phantasiegebilde geblieben. So aber wurde er Herzensangelegenheit, und so mußte auch im Islam der große Kampf geführt werden, welchen die Christenheit den der Athanasianer und der Arianer nennt.

Ganz unathanasianisch sind freilich auch die Sunniten nicht geblieben. Ihnen aber, den unzweifelhaft geraderen Jüngern Muhammeds, hat ein mehr abstrakter Athanasianismus genügt. Sie scheuten jede irgendwie das Fleischliche mit einziehende Verbindung zwischen Gott und Mensch, haben zwar in stets zunehmendem Maße gleichfalls den recht menschlichen Muhammed aus einem Subjekt des Islam zu seinem Objekt gestaltet und das praeexistente göttliche Licht in ihn eingehen lassen; doch seine Göttähnlichkeit zum Dogma zu erheben, haben sie nicht gewagt. Nicht seine Person, sondern wie wir es nennen würden sein Werk überbrückt für sie die Kluft zwischen Gott und Mensch: In dem in der Fülle der Zeit,,herabgelassenen" heiligen Buch neigt sich der weltenferne Gott der Menschheit zu. Daß diese nicht von Muhammed stammende, sondern ihm nur als dem Werkzeug zuteil gewordene Offenbarung göttlich ist, oder mit den Worten sunnitischer Dogmatik gesprochen: Der Qoran ist von Gott in Ewigkeit her; er ist ungeschaffen! — dieses ,,Es gab keine Zeit, da er nicht war" ist der eigentliche Zweite, also der entscheidende Artikel des sunnitischen Islam neben dem allgemeinen religiösen Bekenntnis zum einigen, wissenden, allmächtigen Schöpfer alles dessen, was sichtbar und was unsichtbar ist. Selbst dieser bescheidene Athanasianismus aber, so manches Recht er auch hat, sich auf Muhammends Offenbarungsvorstellung zu berufen, hat sich nur langsam in hartem Kampf durchsetzen können. Solange der Islam noch in lebendig bewegtem Ringen stand, hat der noch blassere Supranaturalismus der Mu'taziliten im Bunde mit den Qadariten, eine Art radikalen Arianertums, sein Genüge gefunden an einem auf pelagianische Weise nach dem Paradiese strebenden Ethizismus und an dem kosmologischen rationalistischen Teil der Predigt Muhammeds. Nur diesen recht aufgreifend, hat er den Gott und das Göttliche in der Ferne belassen wollen. Wie man das ist kein zufälliges Zusammentreffen dem Menschenwillen auf Erden ein größeres Maß von Freiheit, Selbstbestimmung und damit Verantwortung zusprach, so hat man auch dem Menschen

worte das erhabene Buch, soweit es hör- und sichtbar ist, nicht absprechen wollen. Für das Schibboleth: Der Qoran ist erschaffen in der Zeit! haben sich treue,,Liberale" bis in den Tod verfolgen lassen, und zu Ehren dieses Schibboleth haben sie selbst, als sie die Oberhand hatten, wie zu Beginn des 3. (9.) Jahrhunderts die Gegner, die ihnen als Binitarier oder gar Dualisten den Monotheismus zu gefährden schienen, mit der Heimsuchung gequält.

Die Schi'iten kann man nach ihrer religiösen Eigenart als diejenigen Muhammed aner bezeichnen, denen der Qorān als Bindeglied zwischen der Gott- und der Menschheit nicht genügt. Es befriedigt sie nicht, nur das religiöse Erlebnis Muhammeds durch die Verehrung der ihm gewordene n Offenbarung Gottes nachzuleben. Sie behaupten ein anderes: Wir sehen seine Herrlichkeit; er zeltet unter uns! Und neben dem in den Imamen erscheinenden göttlichen Abglanz bleibt nur noch für einen erschaffenen Qorān Raum. Nicht als ob sie alle ihn gering schätzten. Je nach dem stärkeren oder schwächeren Maß, in welchem der Imām-Mittler vergöttlicht wird, bleibt dem Buch-Mittler ein geringeres oder größeres Ansehen. Streitet man in den Kreisen der harmloseren Schi'iten für ihn und mit ihm in sunnitischem Tenor, so bekämpft man ihn auf dem äußersten Flügel als unzulänglich, wie es nur ein philosophischer Freigeist könnte, oder als verdorben und entstellt gleich der Thora und dem Evangelium, welche jetzt in den Händen der Buchleute seien. Darum ergänzt man ihn, falls man ihm nicht völlig entsagt, in solcher Weise, daß er zum dienenden Verkünder der Herrlichkeit der Imāme wird. Die Milderen dagegen behalten die äußere Ehrfurcht insoweit bei, daß sie den Bestand nicht ändern; aber den Sinn bringen sie durch Gewaltexegese mit ihrem ImāmatGlauben in Einklang.

Man hat in der Schi'a lange und stark das Bedürfnis empfunden, sprechen zu können: Was wir gesehen haben mit unseren Augen, was unsere Hände betastet haben! So wurde die Manifestation des Göttlichen nicht an einen. einzelnen Menschen gebunden, sondern in einer fortlaufenden Menschheitslinie weitergeführt. Die fleischliche Fortpflanzung innerhalb der heiligen Familie liefert nacheinander das Substrat, welches zum Tragen bestimmt ist. Dabei ist die angedeutete Stellung zum Qoran einer der Gründe, warum Muhammed selbst, zumal da man ihn mit der großen sunnitischen massa perditionis gemein hatte, immer mehr zurücktrat, je bestimmter sich das spezifisch Schi'itische ausbildete. Schließlich konnte seine Person gleich seinem Werke ganz zurückgedrängt werden, zum bescheidenen Gehilfen des 'Ali oder des Salman-i-Farisi hinabsinken oder neben beiden zur am wenigsten beachteten Person einer Dreiheit werden.

Durch die ganze Erdengeschichte freilich ließ sich jene gottmenschliche Vereinigungslinie nicht sichtbar hindurchziehen.

Negative wie positive Erfahrungen hinderten das. Die rauhe Wirklichkeit hämmerte den Gläubigen immer mehr das Bewußtsein ein, daß das Reich nicht kommen wollte, wie man es sich dachte. Und wir, die wir nüchtern in der Imamen-Ge schlechtsreihe doch einfach eine Art geistlicher Dynastie sehen, dürfen schon von vornherein aus dem Analogiebeweis der Geschichte schließen, daß auch diese Familie sich erschöpfen werde durch das, was wir den Zufall der Geburt zu nennen pflegen. Nicht gerade groß war solche Gefahr auf dem den Sunniten am nächsten stehenden Flügel, wo die Zaiditen im wesentlicher nur einen Chalifen aus dem allein legitim erscheinenden Hause verlangten; für sie kam es bloß darauf an, daß der Gesuchte ein 'Alide überhaupt war, und zwar der tüchtigste, der das Wesen und die Machtmittel zum Scheich besaß. Schwieriger war es da wo nur der Imām den Imām zeugen durfte, und erst recht da, wo er ihn sofort bei seiner ersten Sohneszeugung bilden sollte, womöglich noch mit einem Weibe, das ebenfalls Glied des heiligen Hauses sein müsse. Das pejor avis wurde hier in noch viel tieferem Sinne katastrophal, als daß einst Elis Söhne Hophni und Pinehas hießen. Selbst z. B. wenn Isma'il, der Sohn und ursprüngliche Erbe des vielgeehrten frommen Dscha'far al-Sadiq kein Weintrinker gewesen sein sollte, oder wenn es keine Verleugnung der Berufung war, daß 'Ali Riḍā sich als Schwiegersohn einfangen ließ vom Chalifen Ma'mun, der anscheinend religionspolitische Schwierigkeiten durch eine diplomatische Fürstenehe beheben wollte, so kann man sich doch unschwer vorstellen, daß des öfteren der eigentliche Imāmats-Erbe gewiß ein achtbarer junger Mann aus gutem Hause war, aber nicht mehr. Dann wurde es jedoch auch den liebenden Augen der Unentwegten nicht leicht, in ihm den Ma'sum, den vor allen Fehlern Verwahrten, zu sehen. es durchaus nicht allen leicht geworden, und manche haben es geradezu abgelehnt, 'Ali's ältesten Sohn Hasan in ihre Listen aufzunehmen. Zu denken geben mußte es gleichfalls, wenn neben dem Imāmats-Erben Brüder standen, die einen Vergleich zu seinen Ungunsten herausforderten, oder wenn der Erbe bei des Vaters Tod ein kleines Kind war, oder wenn gar sein Erbe überhaupt fehlte. Umgekehrt aber konnte auch wirkliche Liebe zu einer vielleicht echt religiösen Erscheinung eines Imām die Herzen so fest an ihn binden, daß man sich nicht mehr umstellen konnte bei dem Tode des Verehrten und aus innerer Notwendigkeit heraus, äußerlich aber betrachtet, willkürlich auf die sichtbare Weiterführung jener gottmenschlichen Vereinigungslinie verzichtete. Solche Unentschlossenheit zur Weiterführung der Imamen-Reihe und solches Stehenbleiben bei einem Bestimmten sind eine psychologisch durchaus verständliche Erscheinung. Diese hat aber das Bild der Schi'a so überaus mannigfaltig gestaltet und kann uns eine Unsumme von Teil-,,Sekten" - man

Aber auch von außen und von unten her kommende Beeinflussungen beschleunigten den Abbruch der Manifestationsreihe. Christen, Sabäer, Parsen und unter solchen Hüllen. auch Gnostiker mancherlei Art waren die Eltern vieler Neumuhammedaner gewesen. Nun sind zwar gerade unter den Führern der Schi'a echte Araber gewesen, aber die ihnen neu entgegentretenden spekulativen Dinge haben sie mit fortgerissen und ihnen bei der Ausprägung des Schi'a-Glaubens geholfen. Form und Rahmen waren schon da wie der Heilsgeschichtsrhythmus nach Emanationen in heiligen Zahlenreihen, mit deren Ablauf auch die Imāmen-Reihe ablaufen mußte. Mehr äußere politische Gründe veranlaßten fremde, weltkluge Tatmenschen, einen 'Abdallah b. Maimun, Hasan b. al-Sabbaḥ, Qarmat, Darazi, die Glaubens- ja Fanatismuskraft der Schi'a für sich zu beschäftigen, die Führung aber selbst zu übernehmen.

Fassen wir diese Möglichkeiten zusammen: der Imām ist ein kleines Kind; er stirbt, ohne gezeugt zu haben; er ist eine unwürdige Erscheinung; er ist eine hochwürdige, unersetzliche, weil unvergeßliche Erscheinung; der heilige Zahlenkreis ist geschlossen; die tatsächliche Amtsvollmacht ist auf einen Fremden übergegangen, dem die mystischen Wesensattribute nicht eignen. In all diesen Fällen endet das sichtbare Imamat, d. h. das des Letzten, der den Glaubensanforderungen entsprach, bleibt als unsichtbares bis zur Fülle der Zeiten. Er wird zum dereinst wiederkehrenden Mahdi; er ist nur entrückt, bleibt aber der ,,Herr der Zeit". Der Glaube, dem nichts zu schwer ist uns will er zumeist als fraus, und nicht gerade als pia fraus erscheinen

pflegt den Verkehr mit ihm weiter. Der Verborgene erscheint seinen Frommen, und nicht nur im Traume, auch bei hellichtem Tage in Menschengestalt, besonders als Warner und Helfer in Gefahren; grübelnden Gelehrten gibt er Auskunft in schwierigen Fragen und einsamen Kinderlosen vermag er durch seine Fürsprache bei Allah Sohnessegen zu erwirken. Ganz verdrängt hat aber auch dies letzte Glied der Reihe die früheren nicht. Es war eine große Stärkung für die Gläubigen, daß alle die heiligen Imame bei ihnen standen. So erhielt der Vater des Ibn Bābuje von dem Imam 'Ali al-Naqi (gestorben 245/868) fast ein Jahrhundert nach dessen Heimgang einen eigenhändigen Brief mit einer besonderen Aufforderung zu eifrigem Nachtgebet und mit einer Mahnung zu nur noch kurzem Ausharren. Die Zeit war gut abgepaßt. Es waren die bewegten Tage im 4. (10.) Jahrhundert. In Ibn Bābuje's Heimat erfüllten die Bujiden bereits wenigstens einige der schi'itischen Hoffnungen.

Wohl ist im Voraufgehenden über orientalische Dinge auch europäisch, oder wenigstens hellenistisch gesprochen. Solche Sätze dürfen demnach nur den Annäherungswert der Gleichnisrede beanspruchen; aber sie haben jene innerislamischen Ideen

wenn gar neutestamentliche Worte anklangen, so ist die gehaltliche Verantwortung dafür den Schi'iten selbst zuzuweisen, nicht zum mindesten auch den Kulaini und Tusi, den Ibn Băbūje und Madschlisi. Es ist schon etwas um das wesenhaft von dem übrigen Islam unterscheidende religiöse Sondergut der Schi'a. Es ward zum Gnadenmittel für das Durchhalten, und nicht nur in gefährlichen Zeiten äußerer Verfolgungen. Es bot ihr auch den inneren Halt vor einem Aufgehen in die Allgemeinheit, als kluge und energische Männer wie Asch'ari, wohl etwas harmonisierend, aber unter letzthin doch nur geringen Zugeständnissen, vor allem fremdartig, subjektiv und neu Erscheinenden die Tore schlossen und für die meisten Nachfahren von ehemals,,72 Gruppen" Einheitsformeln fanden. Der schi'itische Sonderbesitz verlieh auch innere hemmende Widerstandskraft gegen die noch gefährlichere Versuchung zu Kompromissen, daß man sich etwa gerührt dabei beruhigt hätte, daß viele, um nicht zu sagen, die meisten der anderen Mosleme auch mit hoher Verehrung des 'Ali und seiner, der ehrwürdigsten Familie des ganzen Islam gedachten. Denn ein anderes ist die wohlanständige Anteilnahme an 'Ali's Person, Haus und Geschick, das taschaiju hasan, ein anderes das Selig-werden-wollen durch den Imam Ali und seine Nachfolger. Beides ist so grundsätzlich verschieden wie die Hochachtung vor einem hingerichteten Ethiker Jesus und der Glaube an einen erlösenden Christus am Kreuz. Selbst der gefährlichsten Versuchungsprobe hielt die Eigenkraft der Schi'a stand, jener der Mystik, welche dem vom offiziellen Islam unbefriedigt gelassenen religiösen Liebesbedürfnis entgegenkam. Man witterte den Wettbewerb. Und wo einzelne wie Nasireddin Tusi oder Molla Ṣadra auf sie eingingen, taten sie es nicht, um der Gottesliebe die Imamen-Liebe zu opfern, sondern um in jener diese zu verankern, als die Liebe zum Abglanz Gottes und seiner Herrlichkeit. Auch neuzeitliche Verständigungsversuche zwischen Sunniten und Schi'iten sind nicht Ausdruck für eine Nivellierung der schi'itischen Besonderheit. Sie bedeuten vielmehr eine asiatische Koalition gegen Europäertum als eine islamische Gemeinschaft gegenüber der Christenheit.

Die unverwüstliche Eigenart schi'itischer Wesenheit mögen zwei Beispiele veranschaulichen, eins aus der Geschichte, das andere aus der Gegenwart. Einst war eine andere Opposition viel gefährlicher, die der demokratisch-puritanischen Charidschiten. Sie und nicht die Schi'iten haben es den Omaijaden und Abbāsiden am schwersten gemacht. An ganzem Eintreten für ihre Sache haben sie es nicht fehlen lassen. Zu ihnen zählten sittlich hochstehende Persönlichkeiten, Ehrenfanatiker und kraftvolle Feldherrn, wie man sie in der Schi'a schon mühsam suchen muß. Wohl gibt es heute noch Châridschiten, aber seit einem Jahrtausend keine ernsthafte Charidschitenfrage mehr. Es versagte der ernst nüchterne Leitsatz: Gottes allein ist die Ent

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