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München.

Gelehrte Anzeigen

der

k. bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Philosophisch-philologische Glasse.

Annaei Senecae oratorum et rhetorum sententiae divisiones colores. Conradus Bursian recensuit et emendavit. Lipsiae typis et impensis Breitkopfi et Haerteli. MDCCCLVII. XX, 466.

Diese rhetorische Schrift des L.*) Annaeus Seneca, des Vaters des Philosophen, die einzige, die von seinen Werken erhalten ist, trägt Eigenthümlichkeit ge= nug in sich, um unsere besondere Beachtung auf sich zu ziehen; in der Reihe der vielen aus dem Gebiete der Rhetorik uns überlieferten Bücher nimmt sie eine ei gene Stellung ein. Rhetorische Uebungen waren von jeher im Alterthume gebräuchlich, aber als Vorschule zur Beredtsamkeit wurden sie wenig beachtet; das Ziel und Ende all ihres Wirkens war die öffentliche Bühne; später als absolute Herrschaft die Macht der öffentlichen Rede gebrochen hatte und diese, wenn nicht ganz aufgehoben, doch sehr beschränkt war, zog sie sich in die Hörsäle, scholae, zurück; die Theilnehmer an sol

*) Den Vornamen L. geben die Handschriften; M. stammt nicht zuerst von Schettus, wie Burfian sagt, sondern ist schon früher von Raphael Valaterranus gebraucht; der Herausgeber hat im Titel diesen als unbekannt übergangen, da er der Meinung ist der Name L sei fälschlich von dem Schne, dem Philosophen, auf den Vater übertragen worden; nicht damit zu vereinigen ist, daß er überall den eins zelnen Büchern gleichwohl nach Schottus den Vornamen M. gegeben hat. Da die alten Codices das L. haben, so ist kein Grund vorhanden, davon abzugehen, so lange nicht die Unrichtigkeit dieser Bezeichnung anderswoher bewiesen ist.

5. Juli 1858.

chen rhetorischen Uebungen (declamationes), die vor ihresgleichen und sonst gewähltem Publicum ihre Kunst und Gewandtheit zeigten, heißen scholastici; ihr Gegensatz ist forum und oratores. Obschon einer beides betreiben kann, wird ihre Verschiedenheit doch überall hervorgehoben, p. 295, 14 nihil est indecentius, quam ubi scolasticus forum quod non novit imitatur. 280, 3 Montanus Votienus, homo rarissimi, etiamsi non emendatissimi ingeni, vitium suum quod in orationibus suis non evitat, in scolasticis quoque evitare non potest; sed in orationibus quia laxatior est materia, minus earundem rerum adnotatur iteratio, in scolasticis, si eadem sunt quae dicuntur, quia pauca sunt, notantur. Ein anderer Unterschied von der oratio ist, daß die declamatio die Widerlegung dessen, was der Gegner vorbringen kann, enthalten muß. 329, 21 Hanc controversiam magna pars declamatorum sic dixit, ut non controversiam divideret, sed accusationem, quomodo solent ordinare actionem suam in foro qui primo loco accusant; in scholastica, quia non duobus dicitur locis, semper non dicendum tantum, sed respondendum est. . Nihil est autem turpius quam aut eam controversiam declarare in qua nihil ab altera parte responderi possit, aut non refellere, si responderi potest. Diese Uebungen erhielten bald eine früher nicht geahnte Bedeutung; man betrachtete das Leben auf dem Forum und in den Gerichten als ein industrielles, dem alle Uebel der Ehr- und Gewinnsucht anhängen, diese Declamationen dagegen als rein wissenschaftlich und der Bildung des Geistes zuträglich. Plinius ep. 2, 3 sagt von Jsäus, seinem Zeitgenosfen: annum sexagesimum excessit et adhuc scholasticus tantum est; quo genere hominum

nihil aut simplicius aut sincerius aut melius; nos enim qui in foro verisque litibus terimur, multum malitiae quamvis nolimus addiscimus; schola et auditorium, ut ficta causa, ita res inermis, innoxia est, nec minus felix senibus praesertim. €3 fehlen solche uɛkétai auch aus älterer Zeit nicht; die griechischen hat Bekker im fünften Bande seiner oratores attici geliefert; die lateinisch erhaltenen des Quintilianus und Calpurnius Flaccus verdanken wir P. Pithou; außerdem gehören hieher die diagioεIS TOY Cyrnuárov von Sopater in Rhet. graeci VIII, 1385, aber alle diese geben uns noch keinen klaren Begriff und wir wüßten nichts von ihrer Bedeutung, hätten wir nicht die Schrift des Philostratus der Bio ooqiorov und unsern Seneca. Aus Philostratus lernen wir die Bedeutung dieser Sophisten; dieses ist der griechische Name der scholastici in späterer Zeit, und wie die besten Kaiser wie Traianus, Hadrianus, M. Aurelius ihre Vorträge hörten und ihnen Beifall schenkten: darüber haben die gel. Anz. bei Gelegenheit der Ausgabe der vitae Sophistarum von L. Kayser (1838 nr. 242-5. VII, 897-926) das nähere nachgewiesen. Den besten Commentar zum Verständniß dieses rhetorischen Treibens, das wir aus Philostratus kennen, liefert unser Seneca, und zwar für die Zeit des Augustus, aber es dauert noch lange fort; Philostratus gibt seinen reichlichen Stoff bis zu Caracallas Herrschaft; für Julians Zeit ist Libanius Zeugniß, und wie lange noch später in derselben Weise fortgefahren wurde, läßt sich chronologisch nicht sicher bestimmen.

Das Werk Senecas ist für seine drei Söhne, Novatus, Seneca, Mela, in hohem Greisenalter, und zwar was unglaublich scheint, ohne alle Vorarbeiten aus bloßer Jugend-Erinnerung geschrieben, aber er rühmt auch die · außerordentliche Kraft seines Gedächtnisses p. 47. In seiner Zeit war diese Art von rhetorischen Uebungen besonders häufig geworden; Augustus Alleinherrschaft hatte von selbst dazu geführt, man konnte Scharfsinn und den Beweis, daß man der Sprache völlig Herr fei, ungefährdet nur in solchen fingirten Thesen glänzen lassen; kein Wunder also, wenn Cicero diese Form

der Rede in seiner Jugend nicht kannte oder wenigs stens nicht benußte (p. 50. Vrgl. Tac. dial. cap. 31.)

Diese Deklamationen sind zweifacher Art; sie fallen in das genus deliberativum und heißen suasoriae, oder in das genus iudiciale und bilden die sogenann

ten controversiae.

Das Merkwürdige und Lehrreiche in dem Verfahren Senecas ist, daß wir in die schola geführt wer den, die verschiedenen Aussprüche und Belege der bedeutendsten scholastici selbst für solche Thema pro und contra mit ihren eigenen Worten überliefert erhalten. Nicht unbedeutende Männer sind es, die hier auftre ten; ein Asinius Pollio, Ovidius u. a. haben diese Uebungen mit Eifer und Erfolg betrieben. Die Beredsamkeit hat eine ganz neue Gestalt gewonnen, wie sie uns der Verfasser des geistreichen Dialoges de causis corruptae eloquentiae anschaulich genug darstellt, wir sehen ihren Uebergang aus der freien Republik, sie schließt mit Cicero ihre frühere Form. Auch in ihrem neuen Gewande findet sie Verehrer genug. Kaum sind es weniger als hundert, die uns Seneca namentlich vorführt. Als das erste Viergestirn, primum tetradeum p. 295, werden Porcius Latro, Aurelius Fuscus, Albucius, Gallio hervorgehoben. Die Einleitungen zu den einzelnen Büchern der controversiae enthalten viele merkwürdige Aeußerungen, haben aber die Aufgabe, stets eine berühmte Persönlichkeit hervorzuheben, und sie genau in dieser ihrer Wirksamkeit zu zeichnen. Die Einleitung des I. Buches spricht über diese Declamationen überhaupt und rühmt den Latro; die des II. den Philosophen Fabianus*) und Aurelius Fuscus; die des III. Severus Cas

Der talentvolle Fabianus hatte seine mit größtem Eifer getriebenen rhetorischen Studien aufgegeben und sich ganz der Philosophie zugewendet. Sogleich macht der Vater die Anwendung auf seinen Sohn Mela, welcher der talentvollste von seinen drei Söhnen aller Ghrsucht bar sei, und Rhetorik nicht wie seine beiden andern Brüder studiere, um selbst ein Rhetor zu werden; das sei eine gute Vorschule zu jedem andern weitern Studium, es heißt von ihm erat quidem tibi maius ingenium quam fratribus tuis, omnium bonarum artium capacissimum, est et hoc ipsum melioris ingenii pignus, non corrumpi bonitate ejus,

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