Page images
PDF
EPUB

Bibliotheken schon daraus zu erkennen, dass sämtliche übrige ältere Provinzen Preussens mit Einschluss von Berlin nur 35 Bibliotheken mit einem Gesamtbestande von 63617 Druckbänden und 612 Handschriften aufweisen. Und was könnte erst von dem Reichtum der Kirchenbibliotheken in der Provinz Sachsen gesagt werden, wenn nicht eine beachtenswerte Anzahl derselben teils als kirchlicher Besitz verloren, teils überhaupt als öffentliches Eigentum untergegangen wäre? Auch die kirchlichen Bibliotheken anderer Provinzen und anderer deutscher Länder haben ähnliche Verluste erlitten.

Es unterliegt nun keinem Zweifel, dass die Tage gekommen sind, an welchen die an vielen Orten im Staube lagernden alten Kirchenbibliotheken zu neuem Leben erweckt werden müssen. Und nicht darin liegt der grössere Nachteil, dass viele Bibliotheken der evangelischen Kirche verloren und untergegangen sind, sondern vielmehr darin, dass der Rest, der erhalten ist, an manchen Orten vor Verlusten und vor gänzlichem Untergang nicht genügend geschützt und vielfach für das Leben der Gegenwart zu einer toten Masse geworden ist. Dass aber den Verlusten, welchen die kirchlichen Bibliotheken leicht ausgesetzt sind, mehr vorgebeugt wird und die Bibliotheken wohl verwahrt werden, dass die Schätze derselben vermehrt und in den Dienst der Kirche, ihrer Geistlichen und Gemeinden gestellt werden und die Bibliotheken sich bequemer und ohne Zeitverlust benutzen lassen, werden die Hauptgesichtspunkte sein, welchen das Kirchenregiment durch eine zu erlassende Verwaltungsordnung nachstreben muss. Es ist leicht, solche Forderungen zu stellen, indessen bei der grossen Verschiedenheit der kirchlichen Bibliotheken schwer zu sagen, wie diese Forderungen verwirklicht werden sollen. Da jedoch jedes Institut in Staat, Kirche und Gesellschaft sich selbst, indem es sein Dasein entwickelt, seine eigene Art und Natur verschafft, so muss man, will man es in seinem Wesen ernsthaft würdigen und fortbilden, sich an dieses sein historisches Gesetz halten. Dieses historische Gesetz bei dem Institut der kirchlichen Bibliotheken aufzufinden, soll unsere nachfolgende Aufgabe sein, indem wir den Versuch machen, die Bibliotheken der evangelischen Kirche in ihrer rechtsgeschichtlichen Entwicklung darzustellen.

I.

Die Bibliotheken der evangelischen Kirche im Vergleich zu den Bibliotheken der katholischen Kirche.

Während die Zahl der Bibliotheken der evangelischen Kirche Preussens nach Schwenkes Berechnung 78 beträgt mit 281979 Druckbänden und 1284 Handschriften und die der evangelischen Kirchen des Deutschen Reichs 120 mit 436 647 Bänden und 1551 Handschriften, wird die Zahl der Bibliotheken der katholischen Kirche Preussens auf 46 mit 377 879 Bänden und 3969 Handschriften und die ganz Deutschlands auf 81 mit 1019 118 Bänden und 5559 Handschriften angegeben. Werden von dieser Zahlenangabe über die Bibliotheken der katholischen

Kirche die reichen Bibliotheken der katholischen Bischöfe und Priesterseminare in Abzug gebracht, dann bleibt doch noch der Thatbestand übrig, dass auch die katholische Kirche Deutschlands und insbesondere Preussens nicht als arm an kirchlichen Bibliotheken zu bezeichnen ist. Welche rechtsgeschichtliche Entwicklung haben aber die Bibliotheken. der katholischen Kirche aufzuweisen und welche Verwaltungsmassnahmen haben die katholischen Bischöfe behufs Begründung und Pflege der ihnen unterstellten Bibliotheken ergriffen? Eine beachtenswerte Antwort erhalten wir durch Pohle in dem Artikel „Bibliotheken" in Wetzers und Weltes Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und Hülfswissenschaften, 2. Aufl., Freiburg, 2. Band S. 782-98. Theodor Gottlieb dagegen bietet in seinem mit Unterstützung der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften zu Wien im Jahre 1890 zu Leipzig erschienenen Werk: „Über mittelalterliche Bibliotheken", worin er Nachrichten über die mittelalterlichen Bibliotheken ganz Europas bringt, aber u. a. von der Andreasbibliothek zu Braunschweig, die Bugenhagen in der Braunschweiger Kirchenordnung nennt, nichts erwähnt, für unsere Frage keine Ausbeute. Pohle giebt in seinem Artikel eine Geschichte des kirchlichen Bibliothekswesens von den Entstehungszeiten der christlichen Kirche an. Mit Recht hebt er die Bedeutung verschiedener Mönchsorden, darunter besonders die des Benediktinerordens hervor, vor dessen Leistungen in Anlegung und Vermehrung der Bibliotheken selbst die bittersten Kloster- und Kirchenfeinde verstummen". Bei allem Verdienst aber um das Bibliothekswesen, welches Pohle der mittelalterlichen Kirche zuschreibt, muss er doch bei Erwähnung der „grössten und reichhaltigsten Bibliothek auf deutschem Boden", die in St. Gallen sich befand, zugestehen, dass ,,bei der allgemeinen Vernachlässigung der litterarischen Studien im 14. und im 15. Jahrhundert auch unter den St. Gallener Mönchen Unwissenheit und Trägheit einriss". So viel aber Pohle von den mittelalterlichen Bibliotheken zu erzählen weiss, so wenig berichtet er über die Bibliotheken der katholischen Kirche aus der Zeit nach dem Beginn der Reformation, denn mit folgenden 3 Sätzen schliesst Pohle seinen Aufsatz: „Mit der allerorts betriebenen „Säcularisation" der Klöster und ihrer Bibliotheken ging die Einziehung des kirchlichen Vermögens durch die Staatsgewalt Hand in Hand. Der Kirche ist in der Gegenwart sogar die Möglichkeit genommen, in gleich erspriesslicher und grossartiger Wirksamkeit für Bibliotheken thätig zu sein, wie dies im Mittelalter der Fall war. Über den jetzigen Stand der Benediktiner-Bibliotheken in Österreich siehe: Histor. Pol. Bl. LXXXIX, 498 ff." Dass die katholische Kirche in Deutschland ihr kirchliches Bibliothekswesen im Laufe des 19. Jahrhunderts mit zielbewusster Arbeit ausgebaut hat und weiter ausbaut, deutet Pohle nicht an. Welchen Grund hatte er, über die im 16. und im 17. Jahrhundert zu grosser Entwicklung gekommenen Bibliotheken der Jesuiten nichts zu sagen, die freilich mit dem Zerfall des Jesuitenordens meistenteils am Ende des vorigen Jahrhunderts der katholischen Kirche verloren gingen und

zwar in derselben Zeit, in welcher auch zahlreiche Bibliotheken der evangelischen Kirche teils in die Rumpelkammer wanderten, teils als Makulatur verkauft wurden? Schon der Umstand, dass Wetzers und Weltes Kirchenlexikon in einem längeren Artikel auf die Bibliotheken hinweist, während das Parallelwerk auf protestantischem Gebiet, Herzogs Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, über kirchliche Bibliotheken nichts zu sagen weiss, giebt uns zu erkennen, dass der Katholicismus in Deutschland schon seit längerer Zeit auf die Bibliotheken seiner Kirche sein Auge gerichtet hat. So ist, um nur einige Beispiele anzuführen, die Bibliothek des Kölner Doms, welche durch die nachgelassenen 30 000 Bände des Erzbischofs Ferdinand August Gr. v. Spiegel zum Diesenberg im Jahre 1835 neu angelegt wurde, im Jahre 1867 durch die alte, im 8. Jahrhundert begründete Manuskriptbibliothek des Doms bereichert worden. Diese war bei der französischen Invasion 1794 geflüchtet und bis 1867 in der Hofbibliothek in Darmstadt aufbewahrt worden. Die Pfarrbibliothek von GrossMartin in Köln wurde von dem im Jahre 1834 verstorbenen Kaplan Forst, Benediktiner von St. Martin, begründet. Die Bibliothek des Doms zu Aachen, welche im Jahre 1826 an das Gymnasium abgegeben worden war, ist 1876 durch eine dem Stiftskapitel von dem Kanonikus Dr. Kloth vermachte Büchersammlung neu begründet. Die Bibliothek des bischöfl. Priesterseminars zu Limburg a. d. Lahn, welche 30 000 Bände umfasst und zugleich die Bibliothek für die Geistlichen der Diocese Limburg ist, wurde 1827 nach der Errichtung des Bistums begründet. Die 90-100 000 Bände umfassende Bibliothek des bischöflichen Seminars zu Mainz, welche 1673 begründet wurde, ist besonders in den letzten Jahrzehnten durch bedeutende Vermächtnisse auf die jetzige Höhe gekommen. Aus Schwenkes Adressbuch der deutschen Bibliotheken", dem wir mit unseren Angaben gefolgt sind, kann diese Liste leicht erweitert werden.

Was die Organisation der im Besitz der katholischen Kirche befindlichen Bibliotheken betrifft, so sind allgemeine Verfügungen und Anordnungen der bischöflichen Behörden bisher in Preussen nicht öffentlich bekannt geworden. Auch Bayern kennt solche nicht. Der Grund liegt vielleicht darin, dass durch die Pflege und Erweiterung der einzelnen bischöflichen Bibliotheken und derjenigen der Priesterseminare mehr eine nicht zu unterschätzende Centralisation des kirchlichen Bibliothekswesens für die einzelnen Diöcesen angestrebt wird und jede dieser Bibliotheken ihre Organisation den Verhältnissen anpasst.

Wie steht es im Vergleich hierzu auf evangelischem Gebiet? Mit Ausnahme von Cassel, Dessau, Erfurt, Friedberg im Grossh. Hessen, Kolmar im Elsass, Loccum, Ratzeburg in Lauenburg, Stade, München, Wittenberg, Wiesbaden und den von Schwenke nicht erwähnten Konsistorial und Ephoralbibliotheken sind im evangelischen Deutschland gewiss nur noch an wenigen Orten kirchliche Bibliotheken zu finden, die für grössere Bezirke bestimmt sind oder zunächst nur den kirchlichen Behörden und den Geistlichen allein dienen sollen. Und doch

überragen die evangelischen Kirchenbibliotheken, wenn von den katholischen Bibliotheken die der Bischöfe, der bischöflichen Priesterseminare und der Klöster in Abzug gebracht werden, die Bibliotheken der katholischen Kirche um ein bedeutendes. Im grossen und ganzen betrachtet sind eben die Bibliotheken der evangelischen Kirche mehr ein Institut der Gemeinde, während die katholischen Kirchenbibliotheken mehr ein Institut des Klerus sind, der nach dem alten Benediktinersprüchwort sich richtet: Claustrum sine armario est castrum sine armis. Dass die Erneuerer der Kirche im 16. Jahrhundert die Wahrheit dieses Wortes zu beherzigen wussten, wollen wir im folgenden zeigen.

II.

Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts
und die kirchlichen Bibliotheken.

Wenn Franz von Löher, bis vor kurzem Archivdirektor in München, in seiner im Jahre 1890 zu Paderborn erschienenen „Archivlehre“, worin er die Erfahrungen eines langen im Dienste der Archive zugebrachten Lebens und besonders die verschiedenen Vorschläge und Ideen, welche in den 13 Bänden der von ihm herausgegebenen „,archivalischen Zeitschrift" enthalten sind, systematisch zusammenfasst, Seite 111 sagt: „Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Reformations- und unserem Zeitalter lässt sich auch in archivalischer Beziehung nicht verkennen“, dann finden wir diese Ähnlichkeit1) auch in bibliothekarischer Beziehung. Denn dieselben Ursachen, die im Reformationszeitalter und in unserem Jahrhundert zum Wiedererwachen der Archive führten und auf kirchlichem Gebiet führen werden, haben im 16. Jahrhundert teils zur Erneuerung, teils zur Begründung der Bibliotheken und besonders der Kirchenbibliotheken geführt und haben in unserm Jahrhundert den Bibliotheken eine grosse Bedeutung verschafft. „Damals herrschte“, um Löhers Worte anzuführen, „eine innere Erregung, ein Aufstreben der Seele, eine Steigerung der Willenskraft, wie sie nur in wenigen anderen Epochen sich in solchem Grade zu bemerken giebt. Die Wiederbelebung der Studien der Litteratur und Wissenschaft des Altertums rief einen Wirbelwind von neuen Ideen hervor. Das Auftauchen von unbekannten Ländern hinter den Oceanen und die Entdeckung grosser Gebiete der Naturwissenschaft, aus welchen neue Quellen der Erkenntnis der Dinge hervorbrachen, erweiterten unmessbar den geistigen Horizont... Niemals hat die Gesetzgebung so viel und so rasch arbeiten müssen als im Zeitalter der Reformation und in unserer Zeit u. s. w." Wenn daher die öffentlichen Staatsbibliotheken in unserem Jahrhundert zu neuem Leben erwacht sind und jetzt am Ende des Jahrhunderts die

1) Dass die jetzige Zeit als eine Zeit der religiösen und kirchlichen Krisis ersten Ranges nur mit der Zeit des Kommens Christi und mit der Zeit der Reformation verglichen werden kann, hat in beachtenswerter Weise besonders Ernst Aug. Freiherr von Göler in seiner Schrift: „An einem geschichtlichen Wendepunkt", Heilbronn 1893, dargelegt.

[ocr errors]

Klagen Eberts, des Begründers der neueren Bibliothekswissenschaft, kaum zu verstehen sind, mit denen er am Anfang dieses Jahrhunderts klagt und sagt: „Die Bibliotheken sind jetzt staubige, öde und unbesuchte Säle, in denen sich der Bibliothekar wöchentlich einige Stunden von Amts wegen aufhalten muss, um diese Zeit über allein zu sein“, und wenn an die Wiederbelebung der kirchlichen Bibliotheken in unserer Zeit Hand angelegt wird, so ist dieses Bestreben nicht das Werk besonderer Liebhaberei, sondern das Resultat einer inneren geschichtlichen Notwendigkeit. Eine ganze Reihe von kirchlichen Bibliotheken der evangelischen Kirche könnte aufgeführt werden, in welchen neues Leben sich zu regen anfängt, ohne dass eine besondere Anregung von kirchenregimentlicher Seite ausgegangen ist.

Die Bewegung, welche in Deutschland für die Umgestaltung, Erneuerung und Erweiterung des Bibliothekswesens sich in unserer Zeit Bahn zu brechen beginnt, hat, von einzelnen früheren Unternehmungen in Deutschland abgesehen, in den Jahren 1848 und 1849 ziemlich gleichzeitig in England und Amerika, wie Prof. Dr. Ed. Reyer in seinem Werk: „Entwicklung und Organisation der Volksbibliotheken, Leipzig 1893" näher nachweist, ihren Anfang gehabt.

[ocr errors]
[ocr errors]

Um aber deutlich zu erkennen, dass unsere Zeit der Reformationszeit auch in bibliothekarischer Beziehung sehr ähnlich ist, vergleiche man nur den Aufsatz: „Die öffentlichen Bibliotheken Deutschlands" in den Mitteilungen der Comeniusgesellschaft", Dezemberheft 1893, welcher auf Grund eines Artikels des von Dr. Victor Böhmert in Dresden herausgegebenen „Volkswohl" für die Verbesserung unseres Bibliothekswesens eintritt, mit dem, was die Pommersche Kirchenordnung vom Jahre 1535 über die Libereien sagt. Dort heisst es: „Es fehlt vielen öffentlichen Büchereien bei uns das Leben mit der Gegenwart, das Leben mit dem Volk. Sie sind eine Art Museen geworden, in denen alte Scharteken sorgfältig gesammelt und aufbewahrt werden, in denen Gelehrte hausen und sich in die Kultur vergangener Jahrhunderte vertiefen; der Bildung der Gegenwart dienen sie in sehr geringem Masse. Sie sind dem Gesetze der Verknöcherung verfallen, dem leider jedes gemeinnützige Unternehmen unterworfen ist, wenn ihm nicht immer wieder in Form von neuer Mitarbeit frisches Blut zugeführt wird. Wo ist beispielsweise ein Leben der kirchlichen Bibliotheken zu spüren? Unseren Vorfahren in früheren Jahrhunderten galten ihre Kirchen als die höchsten Bildungsanstalten des Volks, als solche mussten sie Bibliotheken besitzen, aus denen die erwachsenen Gemeindeglieder die Belehrung schöpfen konnten, die die Predigt naturgemäss nicht bot u. s. w." In der Pommerschen Kirchenordnung vom Jahre 15351) dagegen wird gesagt: „Van Librien. Vnde syndt ynn den Steden ynn Parhen vnde Klöstern etlicke Librien, dar denne etlicke gude bökere ynne synd, welcke ytzunder yemmerlick vnde schmelick

1) Aem. Ludw. Richter, Evangel. Kirchenordnungen des 16. Jahrh. I S. 254.

« PreviousContinue »